Der galoppierende Wahnsinn

by on Mai.31, 2010, under Bücher, Erzählungen, Gesellschaft

Eine autobiographisch geschriebene Lebensgeschichte mit bitteren und gleichzeitig schrägen Untertönen. Die Protagonistin berichtet zumeist chronologisch über ihr von Neurosen dominiertes Leben, ihre Erfahrungen mit Magersucht, Alkoholismus und Zwangsneurosen. Unterbrochen wird die Schilderung mit aktuellen Bezügen zu dem Auffinden des afrikanischen Vaters ihres Sohnes. Die Geschichte endet offen. Sie erzählt authentisch von einer Anzahl psychischer Erkrankungen, deren Verlauf und Auswirkungen überspitzt und doch schonungslos dargestellt werden.

Erschienen im AAVAA Verlag 2010

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Galoppierender Wahnsinn

Meine Erfahrungen mit Tagträumen hatte ich bereits gesammelt. Denn ganz im Ernst: Was sonst bleibt jemandem wie mir auch übrig? Den Morgen eingeklemmt in einem Schulbus, in eisiger Kälte allein auf dem Pausenhof, gelangweilt von der unsäglichen Fadheit des Unterrichts. Der Mensch braucht eine Möglichkeit all dem zu entkommen. Ich begann mit Heidi, begann mit einfachen Dingen. Mit Blumenwiesen. Mit einem rauschenden Bach. Mit einer Bergkulisse und saftigem Grün. Damals wusste ich noch nicht, dass ich Höhenangst hatte, also hielt mich nichts davon ab, mir vorzustellen, wie ich auf dieser Wiese meine Vormittage verbrachte, während ein Roboter mit meinem Aussehen, den unerträglichen Schulalltag hinter sich bringt. Es muss nicht erwähnt werden, dass dieser Roboter selbstverständlich in der Lage war, sämtliche Anforderungen, die von Lehrern oder Mitschülern an ihn gestellt wurden, in Perfektion zu erfüllen. Ihm würden nicht diese Fehler unterlaufen, die mein armes Gehirn in seinen dunkelsten Stunden wieder und wieder durchspielte. Zum Beispiel einst im Bus, als mich drei Mädchen in ihrer Ecke sitzen ließen mit der Bemerkung, nur so lange, bis ihre Freundin käme. Und als sie kam, lachte ich und sagte: Nein, ich würde nicht aufstehen. Es sollte lustig sein, sollte als Witz erkennbar werden. Doch nicht einmal ich selbst erkannte es als Witz. Den Rest der Busfahrt saß ich unglücklich auf dem gestohlenen Platz. Unfähig aufzustehen, unfähig die Blicke der anderen zu ertragen. Es war einfach alles zu schwierig für mich. Zwischenmenschliche Kontakte sind schwierig, zu schwierig. Zumindest was mich angeht.
Stichwort Tagträume. Mit Momo entdeckte ich eine neue Art von Tagträumen. Eine, die mir den Unterricht die folgenden Jahre außerordentlich erleichtern sollte. Ausgenommen in den Monaten, in denen ich so magersüchtig war, dass ich keinen einzigen Gedanken fassen konnte, außer den an Essen.
Aber war dies nicht der Fall, so träumte ich von Liebe. Erdachte Liebesgeschichten. Und mit diesem jungen Schauspieler fing es an. Er inspirierte mich dazu, loszulassen, meine Umgebung und den unwichtigen Unterricht zu verdrängen und in seine Welt einzutauchen. Ich erkannte zum ersten Mal, dass dieser Traum wichtiger war, als jede Schulweisheit, als jedes langweilige Wort, das an der Tafel gesprochen wurde. Doch da war noch viel mehr. Da gab es Comics, da gab es Filme, da gab es von jedem etwas. Prinz Eisenherz, Silberpfeil oder Ritter Ivanhoe boten alles, was eine Jungmädchenphantasie zum erblühen bringen konnte.
Wie eigenwillig, dass meine Geschichten zuerst von Mädchen handelten. Von Prinzessinnen, von schlanken Mädchen in zarten, silberdurchwirkten Kleidern. Sie standen auf der höchsten Zinne des Turmes und ihr schwarzes Haar wehte im Wind. Sie waren in Gefahr, entführt, gejagt oder gesucht. Doch immer ging es weiter für sie, immer weiter, bis ihre Geschichte von einer anderen abgelöst wurde. Von der Geschichte des Indianermädchens, das ihren weißen Freund vom Marterpfahl losbindet. Die Geschichte des Mündels von königlichem Geblüt, das versteckt im Wald unter finsteren Räubern aufwächst und doch den Weg zurück ins Schloss findet.
All diese Geschichten wiesen Gemeinsamkeiten auf. Natürlich taten sie das, sie waren ja von mir erdacht. Zum ersten wurden sie nie vollendet. Das heißt, ich wusste durchaus, wie sie verlaufen und wie sie enden sollten, aber während der Ausarbeitung der Einzelheiten schlief ich regelmäßig ein. Denn am schönsten phantasierte es sich nun mal im eigenen Bett. Selbstverständlich an den Abenden, an denen ich mich nicht gruselte. Zerrissen wurde ich wie immer. Nur in diesem Fall zwischen dem Bedürfnis, die Geschichte meines Herzens weiter zu spinnen und der Notwendigkeit einzuschlafen, bevor diese endgültige Ruhe im Hause einkehrte, die Raum schuf für die Vielzahl von Monstern und Schrecken, die des Nachts ihr Unwesen trieben. Ich musste eingeschlafen sein, bevor ich sie die Treppen hinauf stapfen hörte und fest genug schlafen, um vor allem während der gefährlichen, mitternächtlichen Stunden weggetreten zu sein. Was selbstverständlich nicht funktionierte. Aber ich war bei den Gemeinsamkeiten.
Eine weitere lag in dem Äußeren der weiblichen Protagonistinnen. In dem sehr jugendlichen, quasi prä-pubertären Alter waren diese natürlich immer weiblich und wunderschön. Ihre Haare lang und schwarz, ihre Augen groß und dunkel. Von zarter Gestalt und dennoch merkwürdig sportlich, denn häufig, sehr häufig befanden sich diese armen Seelen auf der Flucht. Sie waren also gezwungen durch finstere Wälder zu irren, die Läger übler Bösewichte zu beschleichen oder auf Pferden halsbrecherische Wege über Klippen und Bäche zurückzulegen. Und das, obwohl ich eigentlich nicht die Mädchen-spezifische Begeisterung für Pferde teilte. Ich las Black Beauty und erfreute mich an Filmen mit Rittern oder amerikanischen Ureinwohnern hoch zu Rosse. Doch die persönliche Konfrontation mit diesen Tieren war doch in erster Linie mit Furcht und Schrecken verbunden.
Angesteckt von der Begeisterung so mancher Mitschülerin hatte ich dereinst meine Eltern gebeten, an dem Rundreiten auf ein sie den Eintritt, nur um zu beobachten, wie ich, panisch schreiend versuchte mich dem Griff des nichtsahnenden Pferde-Dirigenten zu entziehen, der mich kurzentschlossen auf das größte aller Pferde setzten wollte. Nun, ich war nicht mehr die kleinste unter den Teilnehmern. Doch dieses Pferd überstieg meinen mühsam aufgebrachten Mut bei weitem. Es war riesig und ich überließ der Panik die Kontrolle. Der arme Mann musste sich schließlich geschlagen geben und setzte mich auf eines der kleinsten Tiere. Ich hoffe, dass dieses nicht allzu sehr unter meinem Gewicht hat leiden müssen. Das dürfte auch so ziemlich mein einziger Aufenthalt in einem Pferdesattel gewesen sein und er reichte mir aus. Pferde sind wie Menschen. Man genießt sie besser aus der Entfernung.
So bricht mir auch heute noch das Herz, sehe ich diese armen Tiere, die stumpfsinnig im Kreis traben. Nein, eigentlich brach es mir schon, als ich auf einem Ausflug zu einem Ponyhof mitgenommen wurde und die Ponys, die nicht gezwungen waren dusselige Teenager durch die Gegend zu schaukeln, in ihren dunklen, muffigen und schäbigen Baracken besuchte. Nein, diese Pferde-Begeisterung hat in der Realität nichts verloren. Das ist etwas für die Phantasie.
Oder kann sich irgendjemand vorstellen, es gut zu finden, irgendwelche nervtötenden Zweibeiner auf seinem Rücken zu schleppen, nur weil sie es so bequemer haben? Und nicht nur das. Sie schlagen einem die Fersen in den Bauch, schieben Metallstücke in den empfindlichen Mund, an denen sie nach Herzenslust ziehen, bis die Lippen schmerzen. Nein, dass ist kein Vergnügen. Kein Wunder, dass Pferde erst gebrochen werden müssen, bevor sie sich soweit erniedrigen, die ständige Besteigung zuzulassen. Nein, niemand kann mir erzählen, dass ein Pferd freiwillig desgleichen tut. Dass ein Pferd es genießt, um die Wette zu rennen mit einem Typ mit Gerte auf dem Rücken. Oder über unsinnige Hindernisse zu hüpfen, an denen es sich die Beine anschlägt. Das ist übel und Tierquälerei. Aber natürlich wieder nur meine Meinung und was weiß denn ich.
In den Träumen erlaubte ich sie mir, denn sie sahen gut aus. Und meine Prinzessin sah auf ihnen gut aus. Und darauf kam es an. Träume sind Schäume und haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Und außerdem waren sie mein Geheimnis. Niemand und damit meine ich niemand durfte von ihnen erfahren. Nicht einmal in der Therapie verlor ich ein Wort über sie. Sie blieben mein Geheimnis, der Weg sich aus dem Alltag zu entfernen und wenn auch nur für wenige Sekunden.
Merkwürdig nur, dass meine Heldinnen eine für mich vollkommen untypische Aktivität an den Tag legten. Man denke nur daran, dass sie wirklich flohen, sich tatsächlich aus einer Situation befreiten, sich durch etwas hindurch bissen, das schwer war, tatsächlich schwer. Sie hatten so gar nichts von mir. Denn ich begnügte mich im Laufe der Jahre damit, meine Aktivitäten systematisch einzudämmen. Es wurden immer weniger und weniger. Ich glaube auch nicht, dass sich mir je der Gedanke an eine Flucht welcher Art auch immer erschlossen hätte. Geschweige denn einer Eigeninitiative, ein vollkommen unvorstellbares Phänomen für mich. Ich gewöhnte mich daran zu gehorchen und die Dinge auszusitzen, so wenig sie mir auch gefielen. Durch manches musste ich einfach durch, auch wenn danach nichts besser und nichts schlechter wurde. Es half nichts, Schule musste sein.
Meinen einzigen Versuch des Ausbruchs startete ich vielleicht noch zur Zeit der heldenhaften-Prinzessinnen-Träume. Ich beschloss auf die Hauptschule zu gehen. Das Gymnasium langweilte mich, machte keinen Sinn und war mir außerdem zu mühsam. Zur Hauptschule konnte ich zu Fuß gehen. Ich müsste nicht jeden Morgen auf den Bus warten und mich von hellblonden Jungs mit Papierkügelchen beschießen lassen und Karotte schimpfen.
Nur dass meine Eltern so gar nicht dafür waren. Sie begriffen vielleicht, dass ich keinerlei Ehrgeiz besaß, dass ich einem Leben in einem anspruchlosen Job mit möglichst wenig integrierter Denkarbeit wohlwollend entgegen sah. Aber sie akzeptierten es nicht. Seltsam. Stattdessen schlugen sie mir einen Ferienjob vor. Nicht dass sie einen für mich hätten oder wussten, das sollte ich schön selbst managen, aber zu einem anderen Zugeständnis ließen sie sich nicht herab. Nun, intelligent genug um nicht für nichts und wieder nichts die Anstrengung einer Jobsuche auf mich zu nehmen, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie um alles in der Welt so etwas vonstatten gehen sollte, war ich zu jeder Zeit meines Lebens. Das Übernehmen einer Arbeit während der kostbarsten Zeit des Jahres, der Ferienzeit, stand vollkommen außer Frage. Ich war immer für klare Linien. Ganz oder gar nicht, so die Devise. Einen klaren Schnitt, Ende mit dem Schulterror und dafür ein friedliches Leben am Fließband, so hieß das Ziel, das aber dank meiner Eltern außer Reichweite lag. Es hieß also, sich in die Gegebenheiten fügen und sich den lateinischen Vokabeln und mathematischen Formeln weiter zu stellen. Auch wenn ich tief in mir gewusst habe, dass ich sie niemals brauchen würde. Dass ich weder damals, noch heute, noch irgendwann in ferner Zukunft eine Verwendung für das haben würde, was man versuchte, mir so mühsam einzubläuen. Mühsam, vor allem, weil ich nicht lernen konnte. Wohlgemerkt, ich war immer gut. Aber ich wusste weder wie man lernt, noch hatte ich einen Schimmer davon, wozu ich selbst in der Lage war. Ich wusste einfach nicht, was ich wusste, wie viel und wie gut. Es war mir ein Rätsel, wie eine Arbeit ausfallen würde. Ganz im Ernst erwartete ich stets das Schlimmste. Schließlich war es bereits eingetreten. Also lernte ich auswendig. Man nenne es Unsicherheit oder Zwanghaftigkeit oder beides. Auf jeden Fall hatte ich nicht das Gefühl ein Thema zu beherrschen, wenn ich nicht zumindest versucht hatte, jedes Wort des Kapitels aufwendig zu rezitieren. Das war vielleicht ein wenig anstrengend und setzte meiner Magersucht auch einen Nervenzusammenbruch obenauf. Doch wofür. Zurück im Schulalltag, zurück in einer neuen Klassenstufe, nachdem das Wiederholungsjahr wie im Fluge vergangen war, entsann ich mich der alten Gewohnheiten und praktizierte erneutes, stetiges Auswendiglernen. Zumindest lenkte einen dies davon ab, sich über andere Dinge Gedanken zu machen.
Dinge wie, dass die Zeit in Klasse 10 abgelaufen war. Dinge wie, dass die Klasse aufgespalten, durcheinander gewürfelt und anders wieder zusammengesetzt wurde, so dass ich nun wieder in einer Klasse von der Gestalt saß, wie ich ihr eigentlich hatte entkommen wollen. Einer Mädchenklasse, denn Mädchen lernten Sprachen und Jungens Naturwissenschaften. Und ich blieb bei den Sprachen. Wenigstens war ich kurz davor Latein abzuwerfen, in den Boden zu stampfen und einen Freudentanz auf seinem Grab aufzuführen. Bis heute konnte mir niemand den Sinn dieses Faches ausreichend verständlich machen und ich fürchte, dass dem auch so bleiben wird.
Wir waren also zurück in der Hölle schulischer Unterdrückung. Unschuldige, unkomplizierte Jungen waren verschwunden, machten Raum für mein persönliches Schreckgespenst, der Tochter meines Kinderarztes. Die Gute saß mir das ganze Jahr gegenüber und tat genau zwei Dinge.
Sie kämmte sich ihr langes, goldenes Haar oder sie betrachtete ihre wohlgeformten Brüste. Und ich betrachtete sie dabei. Schlimmer konnte es kaum werden, aber es wurde.
Schließlich bedeutete die elfte Klasse zugleich die Wahl der Leistungskurse und ich war im Lauf der Zeit noch nicht besser geworden, was das Treffen von Entscheidungen anging. Die Welt stand mir offen und ich hasste es. Im Grunde kam jedes Fach in Frage, da ich mich in jedem Fach bislang einigermaßen geschlagen hatte. Mit Ausnahme Latein, was sich von selbst versteht. Ebenso fiel Wirtschaft flach, denn in diesem Zusammenhang begriff ich nichts und niemanden. Physik wäre etwas hochgegriffen, aber Mathematik zumindest im Bereich des Möglichen. Englisch war mir gelinde gesagt zu einfach, weshalb die Kombination Kunst und Fremdsprache meinen Ansprüchen nicht gerecht wurde. Kunst lag zu nahe. Kunst konnte ich, Kunst interessierte mich, aber Kunst beinhaltete keinerlei Sinn. Was sollte die Welt mit noch mehr vollgeklecksten Leinwänden anfangen? Worin bestand der Zweck, Kunst zu produzieren? Eine unnötige Zeitverschwendung, erfunden von Reichen, ausgeführt für Reiche. Ein Schema, in das ich mich nicht zwängen lassen wollte.
Noch schlimmer waren die Aussichten, was sich mit Kunst anstellen ließe. Unter dem Strich blieb Werbung als offensichtlichster Tätigkeitsbereich. Und Werbung verachtete ich zutiefst. Ich wollte nicht daran teilhaben, das Konsumdenken zu untermauern oder Menschen dazu anzuregen, Dinge zu wollen, die sie nicht benötigten.

Zu dieser Zeit war ich bereits erklärter Marxist. Geld zu besitzen war angenehm, aber nichtsdestotrotz blieb es eine Erfindung des Teufels. Ach ja, in der elften Klasse lernte ich auch zwischenzeitlich etwas russisch. Unser Kurs besuchte das damalige Leningrad und ich deckte mich begeistert ein mit Anstecknadeln zum Thema Kommunismus. Unnötig zu erwähnen, dass ich den Kommunismus immer noch für eine gute Idee halte.
Eine sinnentleerte Existenz als Künstler zu führen lag demnach außer Frage. Was ich war, was ich konnte, musste einem höheren Zweck dienen. In der wohltätigen Hingabe zu Gunsten der Menschheit. Und am Besten gleich zu Gunsten so vieler Menschen als möglich. Womit wir wieder beim Thema Entwicklungshilfe wären. Diese hatte ich jedoch bereits verworfen. Hauptsächlich nach der Lektüre eines Erlebnisberichtes, in dem hauptsächlich von riesigen, schwarzen Insekten die Rede war, welche Leib, Leben und sogar das Befinden des Lesers der Geschichte beeinträchtigten.
Was blieb also? Ich hatte keine Ahnung. Wirklich nicht die Geringste. Ich wählte also Deutsch und Biologie. Nur nicht aus dem Grund, aus dem diese Kombination zumeist gewählt wurde, weil nichts anderes übrig blieb. Sondern weil ich in der Biologie einen Schritt in einen medizinischen Beruf wähnte, und in Deutsch die entfernte Möglichkeit eventuell doch eines Tages mit einem unsterblichen Roman in die Geschichte einzugehen. Ganz so selbstlos und kommunistisch wie ich es gerne gewesen wäre, war ich demnach noch lange nicht.
Also die Wahl fiel schwer und stürzte mich in eine Krise nach der anderen, zumal die Verantwortung mich stetig zu Boden drückte.
Schließlich näherten wir uns auch unvermeidlich dem Albtraum der Albträume, dem Abitur. Dass ich überhaupt noch klar denken konnte, war erstaunlich genug. Nun, gegen den Strom der Zeit lässt sich nichts ausrichten, so gerne man dies auch tun würde. Die elfte Klasse entschwand demnach und die Kollegstufe machte es auch nicht besser.
Es war mir auch wieder gelungen, einen Großteil meiner Kontakte einzudämmen. Ich hatte einfach keine Lust, keine Kraft und vor allem kein Interesse mehr daran, mir ein Bein nach dem anderen auszureißen und mich zu Gesprächen zu überwinden, die mir außer eingefrorener, freundlicher Gesichtsmuskeln nichts einbrachten. Was mir noch für eine Weile blieb war die Jugendgruppe des Roten Kreuzes. Eine große Herausforderung für mich, da viele dort weitaus älter und erfahrener waren, als ich. Sie kannten die Welt, fuhren Autos, besuchten Discos und waren nett genug, mich in diese Welt zu entführen. Ich hasste auch diese.
Allein die Anstrengung. Ich regte mich auf, bevor es losging. Ich fürchtete mich gewissermaßen zu Tode. Ich suchte verzweifelt nach einem Outfit, in dem ich mir nicht ganz so grässlich vorkam wie sonst. Und dann durchlitt ich die Fahrt ins Ungewisse, die Stunden in schmierigen, lauten, unschönen Gebäuden, festgeklammert an einer Cola.
Das Beste war es, wenn ich endlich zurückkehren durfte. Wenn dieser Abend endlich zu Ende war und ich meine Ruhe hatte. Trotzdem blieb ich dabei. Hauptsächlich um etwas zu erzählen zu haben. Es war wichtig, davon erzählen zu können, was die Clique gemacht, gesagt, getan hatte. Es war wichtig, um zumindest besser dazustehen, als man sich fühlte. Also bestand ich auch darauf, als meine Mutter mich beiseite nahm. Mit Tränen in den Augen fragte sie mich, was nur aus mir geworden sei. Früher wäre ich so ein guter Mensch gewesen, mit Zielen und Interessen. Und jetzt? Oberflächlich und hohl. Ich weinte selbst. Bestimmt hatte ich noch Ziele und Interessen, irgendwo. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich glaubte mir selbst nicht. Und sie glaubte mir auch nicht. Vielleicht fing ich zu diesem Zeitpunkt an, auch diese Kontakte als zu anstrengend und mühsam nach und nach aufzugeben. Natürlich wollte ich nicht oberflächlich sein. Obwohl ich aus der Therapie hauptsächlich herausgezogen hatte, dass es erlaubt war, sich zu lockern. Dass es erlaubt war jung zu sein und sich zu amüsieren. Das Problem war nur, dass ich mich nicht amüsierte. Aber vielleicht musste auch nur länger an dem Amüsement gearbeitet werden, als ich es tat. Ich zumindest gab auf, noch bevor ich verstanden hatte, worin der Spaß eigentlich liegen sollte.
Die Jugendgruppe war demnach eine interessante Erfahrung, doch zu meiner Erleichterung löste sie sich auf, noch bevor ich auf den Gedanken kommen konnte, auszusteigen. Nur eines blieb mir. Eine Sache behielt mehr Einfluss auf mich, als ich mir damals vorstellen konnte. Hätte ich es gewusst, so wäre vielleicht mein Interesse größer gewesen, einen Hauch des Kontaktes aufrecht zu erhalten. Denn es war ein guter Kontakt. Nicht nur interessant, sondern faszinierend.

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