Gestürzt – Galgenmännchen II

by on Dez.29, 2011, under Bücher, Fantasy, Gay Romance, Horror, Jugendroman, Lesbische Liebe, Romanze

Leseprobe
„Ihr seid mir alle zu anstrengend.“ Viktor stieß ein Schnauben aus und drehte sich fort.
„Aber du hast eine Wunde“, sagte Adriana plötzlich und leise. „Vielleicht liegt es daran.“
„Ich hab keine Wunde“, knurrte er, doch seine Haut spannte nicht mehr nur am Hals, sondern plötzlich überall. Abwechselnd wurde ihm heiß und kalt und sein Atem beschleunigte sich.
Er sah sich um, erstaunt, wie hell es ihm immer noch vorkam, obwohl er weder Mond noch Sterne am Himmel entdecken konnte, obwohl das Feuer nur schwach für Licht sorgte und zudem bereits im Erlöschen begriffen war.
Erich und Gudrun hatten sich entfernt und Maria verabschiedete sich von Kristen.
Viktor biss sich auf die Unterlippe, schmeckte Blut. In seiner Erinnerung tauchten Zähne auf, Schreie. Mit Kapuzen bedeckte Gesichter, die zu schrecklich waren, um den Anblick zu ertragen.
„Du weißt, dass dir ein Stück fehlt, nicht wahr?“
Adriana stand auf einmal nahe vor ihm und sie beide waren ein Stück vom Feuer entfernt. Viktor blinzelte, fragte sich, wie er so schnell dorthin gelangt war. Und wie es geschehen konnte, ohne dass es jemandem auffiel.
„Was soll mir fehlen?“ Seine Stimme war trocken wie sein Hals.
Adriana sah ihn an. In der Tiefe ihrer Augen glomm ein Licht. „Das ist verrückt“, flüsterte sie.
„Was denn?“ Viktor sah auf dem Boden hinter ihr eine zerbrochene Flasche. Hatte er aus der getrunken? Er glaubte sich zu erinnern. Und er war nicht allein gewesen.
„Die Alten haben dich verletzt und deshalb konnte Patrick deine Erinnerung nicht löschen.“ Sie lächelte fast. „Wenigstens nicht so, wie er es vorhatte.“ Ihr Lächeln flammte auf, verlosch sofort wieder. „Er hätte es ahnen können.“
„Du redest Unsinn.“ Doch die Worte schmerzten in Viktors Kehle wie Messer.
Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Was war es, das ihm so vertraut vorkam? An Adriana, an dem, was sie gesagt hatte, an dem Namen, der noch in seinen Ohren klang?
„Meine Schwester“, fuhr Adriana fort, „hätte sich das sicher nicht für dich gewünscht.“
„Was ist mit ihr?“ Er krächzte mühsam und Adriana legte ihren Kopf schief. „Das weiß niemand“, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand. „Sie fiel. Sie wurde ermordet. Sie könnte überall sein. Im Himmel wie im Fegefeuer.“
Eine eisige Klammer legte sich um Viktors Herz, und kalter Schweiß drang erneut aus seinen Poren.
„Engel und … und …“
Er konnte es nicht greifen.
„Adriana?“ Kristen stand neben ihnen, ihre Hände in Adrianas Haar vergraben. Jetzt erst sah Viktor, dass die Dunkelhaarige weinte.
„Was hast du gesagt?“, wandte sich Kristen an ihn. Viktor zuckte mit einer Schulter, verzog gleich darauf schmerzverzerrt sein Gesicht.
„Nichts, lasst mich doch alle zufrieden.“
Dafür, dass er nicht einmal wusste, was er hier tat, war es einfach Mist. Er sollte gehen. Und so ging er.
„Was hast du gesagt?“, rief Kristen hinter ihm her. „Was hast du zu ihr gesagt?“
Er wirbelte herum, wütend. „Ich habe gesagt, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Dass ich nichts von ihren Halbwahrheiten hören will.“
Er bebte vor Zorn. „Kristen. Hier stimmt etwas nicht. Besser gesagt, nichts stimmt hier.“ Seine Stimme wurde flehend. „Das musst du doch sehen. Sie lügt uns an. Sie alle lügen.“
Er drehte sich um, als ahnte er jemanden in seinem Rücken. Doch da war niemand. Er wirbelte um sich selbst. Doch so intensiv er auch durch Äste, Bäume und Zelte starrte, niemand offenbarte sich ihm. Kein Geheimnis lüftete den Schleier.
„Reiß dich zusammen.“ Maria, die sich im Hintergrund gehalten hatte, kam näher. „Was soll der Aufstand? Du bist Gast hier.“
„Ich kann mich nicht erinnern, eingeladen worden zu sein.“
Maria packte ihn am Ärmel und er zuckte zurück. Durch den Stoff hindurch vermeinte er, die Kälte ihres Körpers zu fühlen. „Was ist los mit dir?“
Viktor wurde still in ihrem Griff und sie sah ihn verwirrt an. „Was soll los sein?“
„Du bist nicht echt.“ Viktors Blick flog zu Adriana. „Du bist wie sie.“
Maria zog ihre Hand so schnell zurück, als stünde sie kurz davor, zu verbrennen. „Jetzt spinnst du komplett.“ Sie drehte sich hilfesuchend zu Kristen. „Dein Freund dreht durch. Kümmer dich um ihn. Ich weiß nicht, warum wir ihn überhaupt dabei haben.“
Viktor verschränkte seine bebenden Arme vor der Brust. „Das ist es, keiner hier weiß etwas. Außer …“ Sein Blick fiel auf Adriana, wanderte dann zu Maria zurück. „Aber du bist es nicht, du bist kein Engel. Nur kalt, nur …“
Maria wich einen weiteren Schritt zurück. „Sprich nicht weiter“, zischte sie. „Du bringst dich und uns in Gefahr. Du ahnst nicht, was du anrichtest.“
Viktor ballte seine Hände zu Fäusten, schlang seine Arme noch enger um den Körper. „Ihr könnt mich alle mal“, zischte er. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Hals pochte, die Haut juckte. Er krümmte sich und begann zu kratzen. Ein Knutschfleck, wie lachhaft. Die Stelle brannte wie Feuer. Er glaubte, aus seiner Haut springen zu müssen. Das Blut in ihm schwoll an, wollte an die Oberfläche.
Viktor hastete vorwärts. Er stolperte, landete auf allen Vieren, krabbelte weiter. Seine Hände fassten etwas Scharfes. Ein kurzer Schmerz, dann erkannte er die zerbrochene Flasche. Ein scharfer Geruch stieg ihm in die Nase. Ein Bild vom Feuer tauchte auf, von ihm, betrunken, lallend und nicht alleine.
Seine Finger schlossen sich um die Scherbe. Er kam hoch und lief weiter, fühlte nicht, dass die anderen ihm folgten.
„Was ist los?“ Gudrun versuchte Maria zu fassen, doch die lief weiter.
„Er dreht durch“, keuchte die. „Ich glaube, dass er ahnt, was wir sind.“
„Unmöglich. Wir haben uns nicht verraten.“
„He!“ Erich rief über das Heulen des Windes hinweg. „Was zum Teufel ist hier los?“
„Es ist Viktor.“ Gudrun riss ihre Arme hoch, um Erich herbeizuwinken. „Er bringt uns alle in Gefahr.“

Viktor stürzte erneut, kam schmerzhaft auf die Knie auf.
Kristen war nicht weit von ihm, hielt jedoch erschrocken an, als er abwehrend seine Hände hob, als die Scherbe mit dem Licht aufblitzte, das eine über den Mond hinwegfegende Wolke für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte.
„Bleib zurück“, drohte er, ohne zu wissen, womit er drohte. Und doch stand er so kurz davor, er fühlte es deutlich. Die Erinnerung lauerte in den Schatten, er musste ihr nur erlauben vorzutreten.
Hinter Kristen entdeckte er Adrianas dunklen Blick, der ihn unablässig fixierte, der so vertraut und doch so fremd war, als bestünden sie und ihre Gedanken aus dem Gegenteil von allem, was er selbst verkörperte.
Langsam senkte er den Arm, starrte die Scherbe an, gehalten von seinen blutigen Fingern. Schmerz hatte damit zu tun, er wusste es. Und Schmerz fühlte er. Doch nicht dort, wo der hingehörte, sondern tief in seinem Inneren, in seiner Seele. Er hob die Scherbe an und schnitt dort in die Haut, wo sie unerträglich pochte. Kristen schrie und er schloss die Augen.
Die grauenvolle Fratze beugte sich über ihn, biss zu. Bleiche Gesichter, lange Krallen bewegten sich schneller, als das Auge sie verfolgen konnte. Entseelte Hüllen gemordeter Körper sanken zu Boden, hinterließen Bäche aus Blut.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. „Die Alten“, flüsterte er, ohne zu wissen, was es bedeutete.
Die Scherbe fiel aus seiner Hand und er presste seine Finger auf die Wunde, spürte warmes Blut hervorquellen.
Er kam auf die Füße, taumelte vorwärts, wirbelte herum, als er Kristen sich nähern fühlte, stieß sie zurück und begann zu rennen, während Adriana sie auffing. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand er seinen Weg zwischen den Baumstämmen, über Wurzeln und abgebrochene Hölzer hinweg, entfernte sich von dem Lager, das nichts für ihn bereithielt.
Doch wartete jemand auf ihn, sehnte sich jemand nach ihm, gab es einen, der ihn brauchte. Viktor schwor es sich, als der Nebel um ihn wogte und wob, an manchen Stellen dünn wurde und den Blick auf suchende Augen erlaubte. Auf Augen, die nur nach ihm Ausschau hielten.
Es wurde heller und Viktor war sich sicher, dass die Helligkeit sich nicht in seiner Einbildung entfaltete. Sie war real. Eine Flamme, eine Flamme im Boden. Keine Feuerstelle, sondern ein einzelnes flackerndes Licht, das den Weg wies.
Viktor brach durch Hindernisse, durch das Gebüsch und die umgestürzten Bäume, die den Zugang zu einer fast kreisrunden, kahlen Stelle erlaubten. Es sah aus, als habe die Flamme inmitten eines Kreises die Pflanzen, Bäume und abgestorbenen Äste, die sie umgaben, von sich getrieben, sie umgestürzt, zurückgefegt und als Barrieren aufgetürmt.
Viktor kletterte über aufeinanderliegende Stämme, die sich gefährlich unter ihm bewegten. Er schrammte sich beide Arme auf, als er zu Boden rutschte. Sein Blick blieb an der aufgerissenen Erde hängen, den Wurzeln, die sich der kalten Nachtluft entgegenstreckten.
Er vernahm einen Laut, der zugleich gequält und erschrocken klang, und als er aufsah, traf sein Blick die Augen, die er während der wilden Jagd durch den Wald vor sich gesehen hatte, die ihn geleitet hatten.
„Patrick“, flüsterte er, immer noch ohne zu begreifen.
Patrick stand ein Stück von der Flamme entfernt. Seine Arme waren ausgebreitet, sein Kopf zurückgelehnt. Doch sein Mund stand offen in einem stummen Schrei, seine Augen richteten sich unverwandt und schreckerfüllt auf Viktor. Sie waren dunkel und glänzten, und Viktor glaubte einen Streifen schimmernder Feuchtigkeit die weiße Haut herablaufen zu sehen.
Plötzlich war der Wald kein Wald mehr, die Lichtung keine Lichtung und Patrick nicht alleine.
Dunkle Gestalten tauchten vor ihm, hinter ihm und zu seinen Seiten auf. Sie umrundeten ihn, beugten und streckten sich. Ihre Kapuzen regten sich im aufkommenden Wind, gewannen an Leben, straften die nur für Momente sichtbar werdenden Totenschädel Lügen. Sie streckten ihre Arme nach Patrick aus. Ein dumpfes Dröhnen entwich der Erde unter ihnen, wurde zu Gebrüll, das ihre mundlosen Gesichter ausstießen, das anschwoll, bis es schmerzte, bis die Erde zu beben begann.
Aus dem Flackern wurde eine Stichflamme, die vor Patrick in die Höhe schnellte, zu Boden fuhr und ihn umschloss.
Rotes Feuer kreiste um seinen Körper, wirbelte um Arme und Beine, riss seinen Kopf zurück. Bevor sein Blick von Viktors fortgezwungen wurde, erhaschte der noch das höllische Glühen, das Patricks Augen erfüllte. Der Schrei des Vampirs stimmte in das Gebrüll der Alten mit ein, die nun still standen, unbeweglich, ihre Aufmerksamkeit auf Patrick in ihrer Mitte gerichtet, den die Flammen auffraßen. Beißender Geruch erfüllte die Luft. Nicht einmal der Wind, der auf und nieder peitschte, konnte den vertreiben. Ebenso wenig wie den Qualm, der zunahm, schwerer und dunkler wurde, während Viktor auf die Linie starrte, die von Patricks Hals zu dessen Kinn führte, auf die Haare, die sich kräuselten, bevor sie verkohlten.
Patricks Gestalt glühte auf und dann war es vorbei. Die Flammen erloschen auf einen Schlag. Staub rieselte zu Boden. Langsam genug, dass Viktor ihn fallen sah. Einzelne Flocken schwebten in der Luft, wurden von scharfen Windstößen brutal auseinandergetrieben.
Wolken wichen zur Seite, offenbarten fahles Mondlicht.
Triste Leere gähnte Viktor entgegen. Nur die Überreste der Zerstörung, der aufgerissene Boden, verbranntes Holz und die Asche, die sich zu einem Hügel sammelte, vom Wind erfasst und auseinandergeweht wurde, bis sie in Blättern, Wurzeln und Zweigen hängen blieb.
Viktors Augen tränten. Er war alleine, die düsteren Gestalten verschwunden wie Patrick, wie das Feuer.
Schritte erklangen hinter ihm, Flüche.
Die Leere breitete sich in ihm so wie vor ihm aus.
Leere auch in seinem Rücken trotz der Geräusche, trotz der Bewegungen, die er wahrnahm und zugleich nicht als wirklich erkannte.
Bis Kristen neben ihn rutschte, ihr Gleichgewicht verlor und sich im letzten Moment an ihm festhielt.
Viktor schwankte nicht. Er bemerkte sie nicht einmal. Erst als sie ihn wiederholt ansprach, erwachte ein Teil von ihm aus seiner Trance. Seine Pupillen wanderten hin und her, so schnell, dass es Kristen die Sprache verschlug, dass sie ihren Griff verstärkte.
„Viktor. Was ist hier passiert?“ Ihre Stimme klang atemlos, als sie sie wiederfand. Ihre Augen wanderten über die Überreste der entwurzelten Bäume, den aufklaffenden Erdboden, den Staub und die Asche, die immer noch niedersanken, die immer noch die Welt um sie entfremdeten.
„Was war hier los?“
Viktor versuchte zu atmen, hatte nicht bemerkt, dass er aufgehört hatte, die staubige Luft einzusaugen. Er hustete, fühlte Staub in seine Lunge dringen, spürte Patrick. Und verstand doch nicht, was geschehen war oder was es bedeutete. Langsam, mühsam löste er seinen Blick von der Lichtung, drehte sich um und sah Adriana an. Die stand auf einem umgestürzten Baum, als sei sie in der Bewegung erstarrt, als stünde sie kurz davor, einen Schritt vorwärts zu gehen, doch brächte dies nicht fertig.
Ihre Augen trafen seine, kommunizierten still.
„Was ist passiert?“, flüsterte Kristen wieder, doch als Viktor vorwärtszuckte, sanken ihre Arme herab. Sie hielt ihn nicht zurück, als er seine Hand ausstreckte und Adriana herunterhalf.
„Verdammt, was soll das denn sein?“ Erich stampfte durch das Gebüsch. „So was habe ich noch nie gesehen.“
Viktor hörte ihn durch den Schleier, der ihn von allem anderen trennte. Ebenso nahm er Maria wahr und Gudrun, die dem Mann gefolgt waren.
„Das ist nicht gut“, wisperte Maria. „Ein übles Zeichen.“
Viktor schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, den Nebel zu vertreiben, zu sich zu kommen. Doch nur ein weiterer Husten schüttelte ihn. Und als er die Augen wieder öffnete, hielt er immer noch Adrianas kühle Hand, sah ihre forschenden Augen auf sich gerichtet.
„Was für ein Zeichen?“, krächzte er, ohne Maria anzusehen. Er hörte sie näherkommen, fühlte, wie sie Kristens Hand nahm, die hilflos herabhing.

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